Will ich recht haben? Zur Zeit nicht.

Ich glaube, dass es in unserer Welt, in unserer Gesellschaft und in vielen Organisationen mehr als genug Menschen hat, die genau wissen, was richtig und was falsch ist; ich gehöre aktuell nicht zu ihnen.

Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, zwischen falsch und richtig unterscheiden zu wollen. Und wir wollen nicht falsch, sondern richtig liegen – ist ja klar! Trotzdem habe ich mich entschieden, im weiteren Verlauf dieses Jahres zu versuchen, weniger recht zu haben. Nicht, um nun öfters blöd dazustehen, sondern um die dysfunktionalen Elemente zu meiden, die in der Idee von „richtig/falsch“ stecken:

Dysfunktional ist die Idee von “richtig/falsch”…

  • ..vor allem dann, wenn sie uns daran hindert, komplexe Themen erfolgreich zu bearbeiten; denn wer schnell weiss, was falsch oder richtig ist, hat zwar sofort eine Antwort  – nur ist die dann meistens oberflächlich und nutzlos.
  • ..auch deshalb, weil Menschen eine Tendenz haben, nicht rational, sondern emotional zu denken; wir kommen oft auf Antworten, die mehr mit unserem Willen als mit unserem Wissen zu tun haben. Problematisch ist das vor allem dann, wenn wir dann trotzdem glauben, diese Antworten sei “richtig” – und gelte auch für andere.
  • ..auch für Kooperation und Zusammenarbeit; wir erleben es oft als beschämend, unrecht zu haben. Die Angst vor Scham und Abwertung führt manchmal zu Vorsicht im Denken und Handeln. Manchmal führt sie auch zu Sturheit und Aggression. Sowohl Angst wie auch Aggression verhindern die konstruktive Auseinandersetzung, die wir «Dialog» nennen. Dabei braucht es heute im Dialog nicht ängstliche, sondern mutige Menschen.
  • Und zuletzt etwas, was uns zur Zeit alle bewegt: Dysfunktional ist die Idee von “richtig/falsch” vor allem auch, weil sie die Fronten verhärtet. Das gibt im besten Fall Stillstand. Und im schlechtesten Fall Krieg: Ja, die Idee von “richtig/falsch” ist der grösste Feind des Friedens. 

Zum Glück fällt es mir als systemisch denkender Mensch ganz grundsätzlich schwerer, Dinge als richtig oder falsch zu bezeichnen. Natürlich nicht, ob 3 + 3 = 6 ist oder ob ich die S12 oder S26 nehmen soll, wenn ich nach Turbenthal möchte. Nein; aber wo ich gerne darauf verzichte, von “richtig/falsch” zu reden, ist bei komplexeren Themen: Zwischenmenschliche Interaktionen, Gesundheit, die Dynamik in Gruppen, gesellschaftliche, volkswirtschaftliche oder ökologische Fragen, alles Politische: Das sind Themen, bei denen systemische Menschen eher in Möglichkeiten, allenfalls in Wahrscheinlichkeiten denken – in der sogenannten «Kontingenz». Auf kausales Denken und die Logik der mechanistischen Vorstellungen verzichte ich, wenn ich lebendige Systeme betrachte.

In meiner Arbeit mit “lebendigen Systemen”, also Führungskräften, Teams und Organisationen, verzichte ich erst recht darauf, recht zu haben. Und ich ermutige meine Kunden manchmal auch dazu, so zu denken – mindestens für die eine oder andere Stunde während der Beratung. Dass ich sie aber auch ermutige, sich zu positionieren, also Stellung zu beziehen und Entscheidungen zu fällen, versteht sich von selbst; sie sollen ja handlungsfähig bleiben!

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Und? Hat er nun recht mit seiner Ansicht, der Niel Sharan? Oder liegt er falsch? Oder verzichten Sie auf diese Zuordnung und freuen sich einfach darauf, weiter darüber nachzudenken?