KI – oder Motivation durch eigene Leistung

E. erzählte mir vor kurzem: «Ich habe immer viel von meinem Sprachgefühl gehalten. Als ich die Qualität des Textes sah, den ChatGPT aus meinen Vorgaben kreiert hatte, war ich frappiert – er war hervorragend! Ich fühlte mich gedemütigt; innert 4 Sekunden war ein Text entstanden, der meinem klar überlegen war. Ich war danach richtig „down“, fühlte mich minderwertig.» E. hatte einen fachlich und sprachlich guten Bericht geschrieben, aber die „Maschine“ konnte es scheinbar besser.

Als ich ihr zuhörte, kam mir die alte Geschichte des Londoner Taxifahrers in den Sinn, die ich an dieser Stelle schon einmal beschrieben hatte.

Das Thema: Skills und Motivation.

Londoner Taxifahrer sind stolze, bisweilen eigensinnige Persönlichkeiten. Mein Freund K. und ich wollten vom Stadtzentrum zurück zu unserer Bleibe im East End. Wir stiegen in einen klassischen „Black Cab“ ein und nannten als Ziel „Mile End“, das ist eine U-Bahn Station, die ganz in der Nähe unseres Zuhauses war. Der Cab fuhr uns problemlos dorthin. Dort angelangt, sagte ich dem Fahrer, er soll jetzt weiter zur „Roman Road“, unserer eigentlichen Adresse. Roman Road ist etwa 800 m von Mile End entfernt. Die zwei Minuten für diese 800 m waren begleitet von einer original Cockney Schimpftirade: „F**k, s**t tourist, if you want Roman Road, then say f***ing Roman Road, f**k, bull***t.“  Ja, er war ziemlich wütend. Wir stiegen an der Roman Road aus, leicht verwirrt. „Na ja, ein cholerischer Taxifahrer. Kann mal vorkommen.“

Einige Jahre später las ich in einem faszinierenden Buch über das menschliche Gedächtnis* von den unglaublichen Erinnerungsfähigkeiten von Londoner Taxifahrern. Sie müssen alle eine Prüfung bestehen, die ganz prosaisch „The Knowledge“ (das Wissen) heisst. Für diese Prüfung lernen zukünftige Taxifahrer durchschnittlich über zweieinhalb Jahre lang 25,000 Strassen, 320 spezifische lange Routen durch London und unzählige Orte, Sehenswürdigkeiten, Pubs, Clubs usw. Sie lernen so intensiv, dass Sie einen sichtbar grösseren Hypocampus haben als Sie und ich; der Ort, an dem Erinnerungen gespeichert werden, ist bei Londoner Taxifahrern so ausgebildet wie der Bizeps bei Gewichthebern!

Und was hat das nun mit Motivation bei der Arbeit zu tun? Dieser Taxifahrer war super gebildet und fähig, jede Strasse in London aus dem Gedächtnis heraus zu finden – auf dem kürzesten Weg. Ihn zuerst zu Punkt A fahren zu lassen, um ihm dann Punkt B als Endziel zu nennen, beleidigt seine Intelligenz und macht seine Fähigkeiten nutzlos. Und das liess uns unser Cabbie auf wunderbar ungefilterte Londoner Art auch wissen.

Wenn wir, wie dieser Taxifahrer, unser Wissen, unsere Fähigkeiten nicht einsetzen können, ist das ein grosser Ärger – und oft eine grosse Demotivation.

Deshalb: Sagen Sie von Anfang an “Roman Road”. Sorgen Sie dafür, dass Sie selbst bzw. Ihre Mitarbeiter:innen gefordert sind. So gefordert, dass alle ihr Wissen, ihre Skills täglich anbringen können. Das ist Motivation – und es bleiben Ihnen Schimpftiraden (in welcher Sprache auch immer) erspart.

*(Hilde und Ylva Ostby: Nach Seepferdchen tauchen) 

Fazit? Bald wird diese Geschichte gar nicht mehr stattfinden können, weil alle Taxis mit Navigationssystemen unterwegs sind. Taxis sind heute seltener «Black Cabs» (nur noch 15’000, runter von 55’000 im Jahr 2000), sondern Minicabs und Ubers. Die Fahrer sind deutlich weniger herausgefordert mit Navigation; «jede/r» kann Taxi fahren. Der Berufsstolz ist entsprechend auch nicht mehr so stark wie beim Fahrer im obigen Beispiel. Und: Taxifahrer:innen sind deutlich schlechter bezahlt als damals. Es ist oft ein Nebenjob.

Und was bedeutet das für mich als Berater? KI wird uns vielleicht schneller machen, einige von uns vielleicht sogar wohlhabender. Aber als Supervisor und Coach wird mein zentrales Ziel, die Motivation, Arbeitszufriedenheit und mentale Gesundheit meiner Klient:innen zu erhalten oder zu verbessern, relevanter denn je. Der Stolz auf die eigene Arbeitsleistung wird auch in Zukunft zur Zufriedenheit und Gesundheit beitragen. Daran werden wir denken, wenn wir über den Einsatz von Arbeitshilfen diskutieren.